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"Bildungsgerechtigkeit ist eine Überlebensfrage"

Was heißt Bildungsgerechtigkeit im Alltag? Die Bildungsforscherin Sabine Doff suchte in Bremer Schulen nach Antworten. Entstanden ist eine einzigartige Ausstellung über Schüler, Lehrkräfte und Pädagoginnen – und ihre Erwartungen an Schule im 21. Jahrhundert.

Frau Doff, unter der Überschrift "Unlock the Future" haben Sie eine Wanderausstellung zur Bildungsgerechtigkeit konzipiert, die Wissenschaft und Kunst miteinander kombiniert. Kern der Ausstellung sind zwölf Schulen aus Bremen. Ausgerechnet das Bundesland, das in nationalen Bildungsvergleichen fast immer hinten liegt?

Unbedingt! Weil diese zwölf Schulen es trotzdem versuchen – unter bundesweit besonders schwierigen Bedingungen. Bildungsgerechtigkeit ist an diesen Schulen kein theoretisches Konzept, sondern eine Überlebensfrage. Und das macht ihren Umgang damit so bemerkenswert.

Sie sind Sprachdidaktikerin an der Universität Bremen und waren viele Jahre lang wissenschaftliche Direktorin im Zentrum für Lehrerinnen-/Lehrerbildung und Bildungsforschung. Was genau wollten Sie an den Schulen herausfinden?

Mich hat interessiert, wie der oft bemühte Begriff "Bildungsgerechtigkeit" in der Schulpraxis ankommt. Wie übersetzen Lehrer:innen und Schulleitungen dieses Schlagwort in ihr tägliches Handeln? Und wie priorisieren sie das – gerade in Zeiten knapper Ressourcen? Dafür habe ich ein möglichst breites, repräsentatives Spektrum an Schulen in Bremen und Bremerhaven ausgewählt: von der Grundschule bis zur Berufsschule, staatlich und privat, mit und ohne Startchancen-Förderung.

"Zwei Schulen sagten 'Bildungsgerechtigkeit ist eigentlich 
nicht unser Thema'."

Das bundesweite Startchancen-Programm fördert Schulen, auf die besonders viele sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche gehen.

Von denen wir in Bremen besonders viele haben. Entscheidend für das Projekt war die Vielfalt – sowohl der Schulformen als auch der sozialen Lagen. Natürlich mussten die Schulen mitmachen wollen. Von 13 angefragten haben zwölf zugesagt. Und auch zwei, die anfangs sagten: "Bildungsgerechtigkeit ist eigentlich nicht unser Thema", haben sich dann doch sehr produktiv eingebracht.

Wie genau sind Sie vorgegangen?

Ich habe zwei Zugänge gewählt – einen wissenschaftlichen in Form einer Studie und dann einen künstlerischen. Ich erkläre das einmal am Beispiel der Neuen Grundschule Lehe in Bremerhaven. Zuerst habe ich Interviews mit der Schulleitung geführt, um zu verstehen, wie sie Bildungsgerechtigkeit definieren, welche Konzepte dahinterstehen – und was sie konkret tun.

Welche Konzepte von Bildungsgerechtigkeit gibt es denn?

In der Wissenschaft sprechen wir von drei Gerechtigkeitsbegriffen: Verteilung, Schwelle und Anerkennung. Verteilung heißt: Alle bekommen das Gleiche – die gleiche Aufmerksamkeit von der Lehrerin, die gleichen Aufgaben. Schwellengerechtigkeit fragt: Was braucht jedes Kind, um vergleichbare Lernchancen zu haben? Dann bekommen eben nicht alle gleich viel Unterstützung, weil sie auch unterschiedliche Startvoraussetzungen von zu Hause mitbringen. Anerkennung schließlich bedeutet: Ich sehe dich. Ob du viel Unterstützung brauchst oder nicht – du bist willkommen und wirst genauso ernst genommen.

Die Verteilungsgerechtigkeit ist das Prinzip Gießkanne, das in unserem Bildungssystem vorherrscht, oder?

Weil sie am einfachsten umzusetzen ist. Ich behandle oberflächlich betrachtet jedes Kind gleich und gebe ihm das Gleiche. Da muss man sich auch nicht lange für rechtfertigen, das klingt doch plausibel.

Ist es aber nicht?

Zurück zur Neuen Grundschule Lehe. Dort gibt es jeden Morgen ein Frühstück, finanziert von einer Stiftung. Das ist Verteilungsgerechtigkeit, weil es allen Kindern angeboten wird. Aber nicht alle haben gleich viel Hunger, weil manche satt von zu Hause kommen, andere hungrig. Jedes Kind isst so viel, wie es braucht. Das ist Schwellengerechtigkeit. Und in dem gemeinsamen Frühstück steckt viel Anerkennung drin, weil die Schule jedem Kind signalisiert: Wir sehen dich, wir möchten, dass du erfolgreich lernen kannst.

"Das Ziel: Alles, was außerhalb der Schule passiert, 
soll irrelevant sein für den Lernerfolg des Kindes." 

Bildungsgerechtigkeit entsteht also nicht erst im Unterricht.

Genau genommen bedeutet Bildungsgerechtigkeit, allen das Lernen überhaupt erstmal zu ermöglichen. Ebenfalls in Bremerhaven läuft gerade ein Schulversuch namens "Schule ohne Gepäck" – im wörtlichen und im übertragenen Sinne. Kinder bringen normalerweise viel an Gepäck mit in die Schule: ihre Schulranzen, ihre Turnbeutel, ihre Bücher – aber auch ihre soziale Herkunft, ihre Bedürfnisse. An den vier Schulen, die an dem Schulversuch teilnehmen, ist das anders: Jedes Kind hat ein Fach, da steht die Schultasche drin mit allen Büchern, dem iPad, Materialien, Stiften – und die bleiben in der Schule. Und all das Lernen findet dort auch statt. Das Ziel: Alles, was außerhalb der Schule passiert, soll irrelevant sein für den Lernerfolg des Kindes. Hat es zu Hause einen Arbeitsplatz oder nicht? Können die Eltern den teuren Schulranzen kaufen oder nicht? Darauf soll es nicht mehr ankommen. All das geht nur mit einem System des gebundenen Ganztags: Die Kinder sind dort von Montag bis Freitag verbindlich auch am Nachmittag. Übrigens ein weiteres Beispiel dafür, wie die unterschiedlichen Gerechtigkeitskonzepte zusammenkommen. Wenn die Kinder fünf Tage im Ganztag sind, kann ihre Schule auch anerkennen, was sie können. Und alles fördern. Denn dann geht es um das ganze Kind: die geistigen Fähigkeiten, aber auch die künstlerischen, die sportlichen.

Viele Bildungsforscher schwören inzwischen auf die datengestützte Schulentwicklung als Königsweg zu mehr Bildungsgerechtigkeit. Welche Rolle spielt die an den Schulen, die Sie in der Ausstellung porträtieren?

Eine große. Die Schulverwaltung arbeitet mit externer Expertise, sie nutzt Vergleichsarbeiten und bezieht soziale Ausgangslagen in die Interpretation der Daten ein. So wichtig das ist auch für die Strategieentwicklung in den Schulen, haben die Schulleitungen einen differenzierten Blick darauf. Rankings nerven, sagen sie – aber intern nutzen wir die Zahlen sehr gezielt. Und das ist gut so.

Lassen Sie uns über die Kunst in Ihrem Ausstellungsprojekt reden.

Die war ursprünglich gar nicht geplant. Aber nach den ersten Schulbesuchen hatte ich das Bedürfnis, das, was ich gesehen hatte, sichtbar zu machen. Gemeinsam mit der Fotografin Gesine Born habe ich die Schulen erneut besucht – diesmal mit der Frage an die Schülerinnen und Schüler: Zeigt uns, wie Bildungsgerechtigkeit für euch aussieht und wo Bildungsgerechtigkeit bei euch passiert.

"Die Kinder wollten nicht fotografiert werden – sie wollten 
selbst fotografieren. Das war ein starker Moment." 

Und?

Die Kinder wollten nicht fotografiert werden – sie wollten selbst fotografieren. Das war ein starker Moment. Bildungsgerechtigkeit heißt eben auch: mitbestimmen. Also haben wir ihnen Kameras und eine Leinwand gegeben, und sie haben selbst inszeniert, was für sie wichtig ist. Hausmeister, Schulhunde, Lehrerinnen – aber vor allem sich selbst. Das Ergebnis war überwältigend.

Haben Sie ein Lieblingsmotiv?

Ein Bild zeigt vier Kinder mit zwei Lehrerinnen, aufgebaut wie ein klassisches Familienporträt. Rechts und links die Erwachsenen, in der Mitte die Kinder – wie früher auf dem Kaminsims. Für viele dieser Kinder ist die Schule tatsächlich wie eine Familie. In einem anderen Bild haben die Kinder vier Sozialpädagoginnen aus ihrer Schule porträtiert, das sah aus wie eine Filmszene aus "Der Pate". Alle vier Sozialpädagoginnen kommen selbst aus Lehe, sie alle haben eine eigene Migrationsgeschichte. Sie wissen genau, für wen sie arbeiten.

Das alles zeigen Sie jetzt in Ihrer Ausstellung. An wen richtet die sich?

Vor allem an Kinder und Jugendliche – aber auch an alle, die Verantwortung für Kinder und Jugendliche tragen: politisch, gesellschaftlich, in der Bildung. Die Ausstellung verbindet wissenschaftliche Erkenntnisse mit den Bildern der Kinder. Außerdem gibt es eine interaktive KI-Station, bei der die Schülerinnen und Schüler sich selbst in 20 Jahren generieren können. Als Ärztin, Pilot – oder Rentner, wenn sie wollen. Das ist Empowerment: sich selbst als wirksam zu erleben.

Mit welcher Erkenntnis sollten die Menschen aus Ihrer Ausstellung gehen?

Erstens: Bildungsgerechtigkeit ist komplexer, als viele denken. Zweitens: Jede und jeder kann etwas in ihrem Umfeld dazu beitragen – auf der eigenen Ebene, mit ihren eigenen Möglichkeiten. Und drittens: Ich wünsche mir Unterstützung. Wir haben eine Förderallianz gegründet, mit der wir weitere Projekte anstoßen wollen. Das Geld soll direkt den Schulen zugutekommen.

Hinweis: Wenn Sie die neue Förderallianz für die Schulen des Projekts unterstützen möchten, schreiben Sie eine Mail an Sabine Doff.

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Kommentare

#1 -

Wolfgang Kühnel | Mo., 16.06.2025 - 19:00

Was die Bildungsgerechtigkeit betrifft, so hat Prof. H.A.Pant in der FAZ schon detailliert dargelegt, welche drei Arten es so gibt und dass die eben nicht äquivalent sind:

https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/hans-anand-pant-im-interview-was-ist-in-der-bildung-eigentlich-gerecht-18850523.html

Typisch ist: Alle reden über Bildungsgerechtigkeit, aber kaum jemand sagt, was er genau damit meint. Frau Doff meint offenbar: "Das Ziel: Alles, was außerhalb der Schule passiert, soll irrelevant sein für den Lernerfolg des Kindes." Das steht so oben im Artikel. Ist das ernst gemeint?  Private Aktivitäten gelten als "ungerecht"?

Oft wird darunter eine geringe Varianz bei den Schulleistungstests verstanden, große Unterschiede gelten als ungerecht. Andererseits haben nach PISA ca. 85 % der Leistungsunterschiede andere Ursachen als die soziale Herkunft, in Deutschland um ca. 3 Prozentpunkte weniger als im OECD-Durchschnitt. Das wird öffentlich kaum je gesagt: Um nur drei Prozentpunkte geht es in Deutschland ungerechter (in diesem Sinne) zu.

Übrigens:  Die enorm gewachsene Zahl von Ganztagsschulen hat die empirisch gemessenen Zahlen nicht verbessert. Und wir leben doch nun mal im Zeitalter der empirischen Bildungswissenschaft.

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